Am nächsten Tag ging ich also wieder dorthin. Meine Hündin July habe ich unter die Kanzel gelegt. Der Pirschstock stand bereit daneben, falls ich den Bock auf Entfernung sehe und hinterher pirschen kann. Ich baumte also auf und richtete mich ein. Nach einiger Zeit kam wieder eine der dort beheimateten Ricken mit ihrem Kitz. Das ist immer wieder ein schönes Bild, welches einen niemals langweilt.

Als es langsam dämmerig wurde, tauchte ein Bock nach dem anderen auf. Ironischerweise genau die Jährlingsböcke, die ich die ganze Blattzeit im Auge hatte, aber bei denen es nie gepasst hat. Einer dieser Böcke zog dann von links nach rechts über die Wiese. Genau vor meiner Kanzel war ein 2 m breiter und recht langer Gebüschstreifen, daneben ein Zaun. Der Jährling zog also durch diesen Streifen, unter dem Zaun durch auf die Nachbarwiese und stand auf einmal wie angewurzelt da. Da der Wind leider etwas ungünstig stand, hatte ich die Befürchtung, dass er vielleicht Wind von mir bekommen hatte. Er drehte sich auf dem Absatz um und lief wieder dorthin zurück, wo er hergekommen war. Ich war natürlich "begeistert", denn nun war mein schöner Anblick weg. Da es bald dunkel werden sollte, war ich mir sicher, dass es das für diesen Tag war.

Ich lehnte mich zurück und schaute nach vorne aus dem Fenster. Da sah ich plötzlich wie aus dem Nichts ein Stück Rehwild vor mir auf der Wiese stehen. Genau an der Stelle, wo kurz vorher der Jährling abgesprungen war. Ich schaute durch das Fernglas und sofort erkannte ich, dass es der kranke Bock war. Mein Puls stieg. Er muss die ganze Zeit in dem Heckenstreifen gelegen haben. Nun stand er auf ca. 80 m Entfernung, bewegte sich sehr, sehr langsam, versuchte zu äsen und dabei das Gleichgewicht zu halten. Er knickte vorne rechts immer wieder ein und hatte viel Mühe auf den Läufen zu bleiben. Tendenziell zog der Bock leicht schräg von mir weg. Ich musste mich also etwas beeilen, denn eines war sicher: So eine Chance bekomme ich so schnell nicht wieder. Ich nahm die Waffe hoch und merkte, dass von der plötzlichen Aufregung meine Hände ganz nass waren. Ich legte an und versuchte den Bock stabil in die Optik zu bekommen. Mein Herz raste wie verrückt und ich musste zwei, drei Mal tief durchatmen. Jetzt nur keinen Fehler machen! Im nächsten Moment schaltete mein Kopf auf Autopilot und alles lief wie von selbst. Die Waffe fest eingezogen, Atmung ruhig, warten. Ein kleiner, wirklich klitzekleiner Schritt nach rechts fehlte noch, denn er stand zu schräg. Er machte den Schritt...


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