Ist die Kugel erst aus dem Lauf, hält auch der Teufel sie nicht auf
Jagdgeschichten

Ist die Kugel erst aus dem Lauf, hält auch der Teufel sie nicht auf

Text & Bilder Johannes Maidhof

Mai: Wonnemonat, üppige Blütenpracht, saftig-gelber Raps, milde Tage, Bockjagdzeit. Zum ersten Mal durfte ich meinen Jagdfreund Patrick, in seinem Feldrevier in der Rhön besuchen. Wir hatten geplant besonders in die Jugendklasse des Rehwildes einzugreifen, schwache Jährlinge und Schmalrehe zu entnehmen.

Mehrjährige, besonders aber reife Böcke, hebt man sich hier gerne für die Blattzeit auf. Die Zeit zwischen den Ansitzen würde mit Fallenbau, den ein oder anderen Revierarbeiten und nicht zuletzt gepflegter Geselligkeit gut gefüllt sein. Das Wochenende nach Christi-Himmelfahrt im vergangen Jahr, dank Brückentag auf fünf freie Tage verlängert, kam wie gerufen. Ich machte mich mit meinen alten Drahthaar-Rüden „Pacco“ auf den Weg, nicht wissend, dass dieser noch eine wichtige Rolle spielen würde…

Die Gegend im ehemaligen Zonenrandgebiet könnte kaum schöner sein: Bewaldete Hügel säumen den Horizont. Ackerbau und wilde Flächen sind gut durchmischt, ein Strukturreichtum, das farbenfroh blühend dem Auge eine Freude, dem Niederwild ein Zuhause und den Insekten reichhaltig Nahrung bietet. Die Dörfchen sind kompakt und nach Sonnenuntergang klappt man die Gehsteige hoch. Kein Ort könnte besser geeignet sein, der vom Alltag gehetzten Seele eine Zuflucht zu bieten. Und wenn die Nacht gekommen ist, so lohnt es sich den Kopf tief in den Nacken zu legen und gen Himmel zu blicken. Kein Kunstlicht stört hier die Sicht auf den geheimnisvollen Glitzer des Sternenhimmels.

Die Einladung dankte ich mit regionalen Spezialitäten: Schwarzwild-Presssack, Haselnuss-Geist und einen Bocksbeutel Frankenwein wurden als Gastgeschenk dankend angenommen und sogleich verkostet. Der Abend wurde lang, die Nacht dementsprechend kurz und schon befand ich mich schlaftrunken im Hochsitz, wartend, dass die Dämmerung Nachtkühle und Dunkelheit vertrieb. Ich saß im sogenannten Obstgarten, ein Platz im Herzen des Reviers. Sanfthügelig schlängelt sich das Gelände dahin, Brachen, Wildäcker und bestellte Felder wechseln sich ab, unterbrochen von Heckenstreifen oder kleinen Gehölzen. So wie die Sonne hinter dem alten Steinbruch aufstieg, tauchte sie das Tal in goldene Morgenwärme. Die Vögel krakeelten, brummende Insekten schwirrten um die Blütenstände, es war eine Atmosphäre wie aus einem Jagdroman längst vergangener Tage. Eine hochtragende Geiß konnte ich beobachten, ebenso einen gut veranlagten Jährling und einen starken, mehrjährigen Bock. Mit leeren Händen, doch vollem Herzen kehrte ich zum Frühstück in das Jagdhaus zurück.

Auch die weiteren Ansitze vergingen ohne Waidmannsheil, es gab viel zu sehen, aber kein Stück Wild, das den selbstauferlegten Regularien entsprochen hätte. Am Samstagabend saß ich in der Nordhälfte des Revieres. Nah am Wald, bei den Streuobstwiesen, wo sich in den Gräben dunkle Verschläge gebildet hatten. Ein Rehwild-Habitat wie aus dem Lehrbuch, aus allen Richtungen konnte ich hier mit Anblick rechnen.

Die Strahlen der Sonne wärmten noch mit satter Kraft, da erspähte ich einen Bock vor einem dornigen Kuschel. Nicht besonders stark im Wildbret, Stangen unter Lauscher noch komplett im Bast, sprach ich ihn trotz der leichten Gabelung des Gehörns als zu entnehmenden Jährling an. Breit stand er da, das Haupt gesenkt um frisches Grün zu äsen. Im Anschlag wartete ich gespannt, dass ich einen sicheren Schuss anbringen konnte. Er hob das Haupt, kaute entspannt, mein Absehen ruhte hinter dem Schultergelenk. Der gestochene Abzug quittierte das krümmen meines Abzugsfingers sofort, dampfspeiend zischte das Geschoss aus dem Lauf – und ich wäre am liebsten hinterher gesprungen. Denn just in dem Moment, unmittelbar als der Schuss sich löste, sah ich durch das Zielfernrohr den Bock einen Schritt nach vorne machen. Ich hätte gerne das Geschoss gegriffen, es abgelenkt, irgendwie versucht zu verhindern, was nun nicht mehr zu ändern war. Viel zu weit hinten sah ich den Aufprall der Kugel auf den Wildkörper. Sein Zeichnen, heftiges Auskeilen mit den Hinterläufen, passte zu meiner Befürchtung: Der Treffer saß mutmaßlich weich.

Ich spürte mein Herz durch die Brust bis ans Hemd schlagen. Verzweiflung und Wut auf mich selbst machten sich breit, flüchteten sich dann in einen zaghaften Anflug von Hoffnung, dass die Kugel doch noch ihre tödliche Kraft entfalten konnte.

Eine Stunde verging, in der ich dieses Wechselbad der Gefühle mehrmals durchlief. Die Dämmerung nahte bereits und ich wollte auf keinen Fall bis zum Dunkelwerden warten. Bangen Schrittes machte ich mich auf, um den Anschuss zu untersuchen. Wenig, dunkler Schweiß, etwas Grün, alle schlechten Vorahnungen bestätigten sich. Die schwache Wundfährte führte in die nahe Hecke, der Hund musste nun richten, woran ich mit Sicherheit scheitern würde. Patrick beendete seinen Ansitz vorzeitig und lenkte den schaukligen Kübelwagen über den Feldweg, brachte mir Hund und Rüstzeug. Pacco strahlte wie immer Ruhe aus, aufmerksam beobachtete er mich wie ich den Riemen und das Geschirr aus dem Kofferraum nahm. Als würde er mir meine Unsicherheit, meine Selbstzweifel lindern wollen, trottete er gelassen neben mir her zum Anschuss, „Auf meine erfahrene Nase kannst du dich schon verlassen“, schien er mir sagen zu wollen.

Den Anschuss bewindete er nur kurz und tauchte sogleich in die dichte Hecke ein, ich folgte auf Knien, später bäuchlings rutschend, die Dornenstiche und peitschenden Äste sollten meine gerechte Buße sein. Immer wieder kleine Zeichen der Bestätigung, ein Tröpfchen abgestreifter Schweiß, ein Fetzen Wildbret, Rückstände von Panseninhalt. Selbst ein Stück Gescheide verwies der brave Drahthaar. Doch das Ende der Flucht war nicht absehbar. Pacco stieß aus der Hecke, stoisch trabte er mit mäßiger Geschwindigkeit voran. Die Nase festgesaugt folgte er der Fährte, die für mich nicht einmal mehr zu erahnen war. So vertraute ich dem Rüden und folgte ihm hangabwärts über die offene Wiese. Nach einer Kuppe legte er an Tempo zu, der Riemen straffte sich. Vor einem weiteren Verhau mit dichtem Geäst, hob er kurz den Kopf. Ich deutete sein Verhalten so, dass der Bock in der Hecke liegen musste, doch konnte ich nicht durch das Astwerk blicken. Ich löste den Riemen und schickte den Hund voran, tauchte ebenfalls in die Hecke ein und da sah ich ihn: Mit dem Haupt aufgerichtet lag er im Wundbett, wie anklagend starrten mich seine Lichter an.

Doch bevor Pacco ihn erreichen und packen konnte, fuhr der Bock hoch, stürzte aus der Hecke, der Rüde mit tiefem Laut hintenan. Patrick, der mit geladener Waffe vor dem Verschlag gewartet hatte, hatte keine Chance einen sicheren Schuss anzubringen.

Ich stürzte durch den Schlehdorn, verfolgte die Hatz, der Recke nahm in seiner Not die nächste Strauchdickung an. Der Drahthaar hinterher, packte mit sicherem Griff und sogleich konnte ich mit dem kalten Stahl die Erlösung bringen. Ich rang um Atem und Fassung.

Was hatte ich dem Wild angetan?! Wäre es zu verhindern gewesen?! Ich quälte mich mit Selbstvorwürfen.

Pacco versuchte mich mit gütigem Blick zu versöhnen. Diese Freudlosigkeit konnte er in Anbetracht der Beute und seiner Leistung nicht verstehen. Ich lobte und herzte ihn erst einmal ausgiebig, er hatte die Aufgabe ja wirklich mit Bravour gelöst. So langsam breitete sich Wohlmut in mir aus, der Stolz auf den Hund vertrieb meine schlechten Gedanken.

Aus der Hecke geborgen lag er dort, der Kämpfer. Voll Ehrfurcht betrachtete ich den schwachen Wildkörper, ein gebotener Abschuss, zweifelsohne, doch das Elend hätte ich ihm gerne erspart. So verweilte ich in Stille, nachdem ich den letzten Bissen gereicht hatte, Patrick holte das Revierfahrzeug mit allen Utensilien, um den Bock zu versorgen.

Ein kalter Kräuterlikör begoss nach der roten Arbeit das Waidmannsheil, inzwischen schmückten schon Sternenfunkeln den Nachthimmel. Das Horn erklang, spielte das Totsignal und ein Schauer jagte mir vom Atlas bis zur Ferse. In tiefer Dankbarkeit gedachte ich noch einmal der Arbeit des Rüden. Diese Erfahrung würde ich nicht mehr vergessen, als ewige Mahnung soll mir das Erlebnis dienen. Obwohl ich nach eigenem Dafürhalten nicht leichtfertig gehandelt hatte, so wurde mir doch bewusst, wie bedrohlich das Damoklesschwert auch in sicher geglaubten Situationen über uns pendelt. Jedem kann ein Missgeschick passieren, doch niemals darf man vergessen, dass ein Fehler unsererseits immer vom Wild bezahlt wird.


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