Ein bis zwei Ansitze später sah ich diesen Bock erneut. Wieder in der hohen Wiese. Wieder vertrieb er so gut es ging Konkurrenten. Diesmal kam er tatsächlich für einen kurzen Augenblick auf die gemähte Wiese gelaufen, auf der die Kanzel stand. Das kurze Gastspiel brachte genaueren Aufschluss über seine Gesundheit: Die Verletzung war definitiv größer als gedacht, denn den rechten Vorderlauf benutze er fast nicht. Es war klar, dass hier gehandelt werden musste. Aber obwohl er nur drei funktionierende Läufe hatte, galoppierte er davon, was mir ein Erlegen auf diese Entfernung unmöglich machte. Gut... dann werde ich meinen Fokus in der nächsten Zeit darauf richten diesen Bock wiederzufinden. So der theoretische Plan!

Seit diesem Abend habe ich den Bock fast zwei Monate nicht mehr gesehen! Er war wie vom Erdboden verschluckt. Ich war mir fast sicher, dass er der nahegelegenen Landstraße zum Opfer gefallen ist, oder er jetzt im Nachbarrevier steht.

Ich war noch oft auf dieser Kanzel, weil ich einfach sicher gehen und es weiter versuchen wollte, aber ohne Erfolg. Nach Wochen des vergeblichen Sitzens habe ich es aufgegeben und bin nicht mehr dorthin gegangen. Irgendwie brauchte ich eine Pause von dieser Kanzel. Wobei mich trotzdem die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen plagte.

Eines Abends zog es mich wieder an diese Stelle. Die Sonne schien, es war ein herrlicher Tag und ich freute mich regelrecht auf die Altbekannte. Wunderschönen Anblick hatte ich an dem Abend: Zwei Ricken, zwei Kitze und ein kleiner für mich passender Bock, der leider wieder viel zu weit weg war. Es ging also genauso weiter, wie es vor ein paar Wochen aufgehört hatte: auf Entfernung gesehen, keine Chance ranzukommen, keine Möglichkeit mich anzupirschen... verrückt, aber völlig in Ordnung.

Plötzlich sah ich links von der Kanzel hinter einer kleinen Kuppe ein Stück Rehwild an einer dichten Buschreihe stehen. Ich nahm das Glas hoch und erkannte in der Dämmerung, dass es ein etwas stärkerer Bock und kein Jährling war. Man konnte durch die Kuppe lediglich die Rückenlinie, den Träger und das Haupt sehen. Als er langsam loszog, bemerkte ich, dass er stark lahmte! Ich werde verrückt...der kranke Bock, auf den ich wochenlang vergeblich gewartet hatte. Er war doch noch da! Verflixt... und wieder gab es keine Chance. Er zog langsam von mir weg und blieb dabei immer hinter dieser Kuppe. Na gut, aber trotzdem gab es wichtige Erkenntnisse: Der Bock ist noch da, er ist nach wie vor stark laufkrank, er ist gut genährt und hat sich irgendwie mit seiner Situation arrangiert. Trotzdem kein tragbarer Zustand. Also stand für mich fest, so lange und so oft dort zu sitzen, bis es passt!


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