Ein jämmerliches Bild bot sich mir. Er fiepte ohne Unterlass und konnte noch schlechter laufen als tags zuvor. In dem Moment schlug bei mir im Kopf ein Schalter um und ein merkwürdiger Automatismus setzte ein. Jetzt galt es keine Zeit zu verlieren. Während ich die Waffe hochnahm, sah ich, dass die dazugehörige Ricke das Bockkitz versuchte zu verjagen. Sie wollte ihn tatsächlich loswerden...! Das Rickenkitz, was vorher kam, stand mittlerweile nur noch 15 m von der Kanzel entfernt. Plötzlich äugte es zu mir hoch und stand völlig gespannt dort. Ich bewegte mich nicht und hoffte, dass sie weiter äst. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie das Haupt wieder herunter nahm. Ich hatte einen Handschuh auf die Fensterkante gelegt, um dort die Waffe aufzulegen. Leider nicht weit genug rechts. Ich wollte den Handschuh und die Waffe langsam und leise weiter nach rechts schieben. Wieder schaute das Rickenkitz hoch... wieder Stillstand. Und wieder sah ich, wie die Ricke ihr Bockkitz scheuchte. Meine Güte, vorne bewegungslos bleiben und hinten drängt die Zeit. Immer wieder schoss es mir durch den Kopf: „Bitte, bitte nicht verjagen! Nicht hinten im Wald verschwinden...!“

Gott sei Dank fehlt es den Kitzen ja generell noch an der nötigen Erfahrung, Gefahren einzuschätzen, sodass das Rickenkitz sich irgendwann wieder dem Äsen widmete. Also konnte ich die Waffe und mich in die richtige Position bringen und anlegen. Das kranke Bockkitz stand ungefähr 60 m entfernt und glücklicherweise frei, denn ich hatte ja mittlerweile einen Sprung mit sieben Stück Rehwild vor mir stehen. Nun musste es schnell gehen. Das Bockkitz hatte den Lauf leicht angewinkelt und sackte bei jedem seiner langsamen Schritte nach vorne ab. Dann verhoffte es einen Moment. Es stand breit und mit dem kranken Lauf zu mir. Ich hielt auf das Blatt an, atmete tief ein und aus...

Auf dem Wildacker herrschte helle Aufregung. Alles rannte durcheinander und verschwand so schnell es ging im dichten Wald. Ich versuchte sofort zu erkennen, wie das Kitz gezeichnet hat und sah, wie es losstürmte, zur Seite umfiel, wieder aufsprang und in Windeseile weiterlief, direkt hangabwärts in den Wald. Ich repetierte sofort, aber es war zu schnell weg. Dann sicherte ich die Waffe und nahm sie runter. Plötzlich setzte das „große Flattern“ ein... ein unglaubliches Zittern, was den ganzen Körper, besonders die Atmung und die Hände befiel. In meinem Gehörschutz hörte ich meinen Puls rasen. Ich musste ihn sofort absetzen, denn der Pulsschlag war einfach zu laut. Es dauerte einen Moment, bis ich tief durchatmen konnte. Nach einer Weile nahm ich mein Handy und da war auch schon eine Nachricht von Holger: „WMH?“ Ich versuchte zu tippen und ich schaffte ein kurzes „Ich war das.“ Ich beschloss ihn dann doch anzurufen, da das definitiv einfacher war, als mit zitternden Fingern zu tippen. Ich berichtete kurz und mein Mann beruhigte mich, indem er sagte, dass er nur schnell alles zusammen packt und dann zu mir kommt. Zumindest in Richtung Auto, denn wir saßen relativ weit auseinander und die Strecke war bei der Menge an Schnee und Eis schwer zu bewältigen. Nachdem wir aufgelegt hatten steckte ich mir eine Zigarette an. Erstens um meine Nerven zu beruhigen und zweitens, weil man ja gelernt hatte eine gewisse Zeit zu warten, bevor man sich auf den Weg zum Stück bzw. zum Anschuss macht. Leise schickte ich kleine Stoßgebete zum Himmel, mit der Bitte das Kitz gut getroffen zu haben.


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